Historische Wurzeln der Psychiatrie

Die Geschichte der Psychiatrie ist kaum 200 Jahre alt. Über Jahrhunderte wurden psychisch Kranke nicht als solche wahrgenommen. Spezialisierte Einrichtungen sind erst ein Phänomen der letzten beiden Jahrhunderte. Zuvor wurden Kranke zuhause behalten oder verstossen. Paul Hoff und Walter Denzler über die Geschichte der Psychiatrie und der Privatklinik Hohenegg.

Klinikdirektor Walter Denzler und Prof. Dr. Paul Hoff erläutern im Interview die eindrucksvolle Entwicklung der Schweizer Psychiatrie und der Privatklinik Hohenegg.

Walter Denzler, Sie sind seit zwanzig Jahren mit der Privatklinik Hohenegg verbunden. Was fasziniert Sie an der Klinik?

Walter Denzler: Für mich ist die Hohenegg ein spezieller Ort, gewissermassen ein Kraftort. Besonders fasziniert mich, dass wir die Gebäude heute so nutzen, wie das vor über hundert Jahren konzipiert worden ist. Die Offenheit der Anlage, keine abgrenzenden Mauern, lichtdurchflutete Gebäude und eine schöne Fernsicht – das alles funktioniert nach wie vor und trägt zu einer gelingenden therapeutischen Arbeit bei.

Die Hohenegg wurde von vielen Menschen schon immer als Kraftort erlebt. Wenn wir zurückblicken, welches waren im 19. Jahrhundert führende Psychiatriekonzepte?

Paul Hoff: Die Psychiatrie war damals eine junge Wissenschaft. Sie entstand im 19. Jahrhundert und musste sich erst einmal selber definieren, rang um Positionen. Die Spannweite dieser Positionen war enorm. Einige betrachteten die Psychiatrie philosophisch, die Vertreter der sogenannten romantischen Psychiatrie. Für sie waren Biografie und Persönlichkeit der Patientinnen und Patienten relevant. Bei „Geisteskrankheit“ wie man damals die Krankheit bezeichnete, trugen Patienten gemäss Lehrmeinung eine Mitverantwortung. Sie hatten möglicherweise falsch gelebt, gegen Gesellschaftsnormen verstossen. Später hat das Pendel in eine andere Richtung ausgeschlagen: Psychiatrie hatte nun wie andere Disziplinen auch wissenschaftlich zu sein: messbar, auf Daten und Studien basierend.

Bei „Geisteskrankheit“ wie man damals die Krankheit bezeichnete, trugen Patienten gemäss Lehrmeinung eine Mitverantwortung. Sie hatten möglicherweise falsch gelebt, gegen Gesellschaftsnormen verstossen.

Prof. Dr. Paul Hoff

Und das Gehirn rückte in den Vordergrund.

Paul Hoff: Dies hatte mit dem Aufschwung der Naturwissenschaften zu tun: Chemie, Biologie, Physik. Die Naturwissenschaften haben damals die Medizin stark beeinflusst, auch die Psychiatrie. Man wollte Körper und Geist naturwissenschaftlich beschreiben und verstehen. Manche Exponenten vertraten die radikale Auffassung, psychische Krankheiten seien nichts anderes als Gehirnerkrankungen. Zwischen diesen Extremen pendelte das Fach: die Bedeutung von Person und Lebensgeschichte versus organische Funktionen des Gehirns. Das machte die Psychiatrie unübersichtlich, aber auch spannend und herausfordernd.

Inwiefern war dieses Spannungsfeld bedeutsam bei der Gründung der Hohenegg?

Walter Denzler: Es ist bemerkenswert, dass der Hohenegg-Gründervater Theodor Zangger sich als Hausarzt und Nervenarzt bezeichnet hat. Die von Paul Hoff ausgeführten Polaritäten widerspiegeln sich also auch in den Berufsbezeichnungen. Ich frage mich: War er eher Neurologe oder Psychiater, wenn er sich als Nervenarzt bezeichnete?

Paul Hoff: Den Begriff Nervenarzt hat es in der Schweizer Psychiatrie nie gegeben. In Deutschland aber schon. Ich zum Beispiel bin ausgebildeter Nervenarzt, das heisst: Facharzt für Psychiatrie und Neurologie. Ich würde mich heute aber nicht mehr als Nervenarzt bezeichnen.

Walter Denzler: Auf jeden Fall hat Theodor Zangger bemerkt, dass es eine Zunahme von «merkwürdigen Fällen» gab, viele Menschen wurden seelisch oder geistig krank. Offenbar ist in dieser Zeit gesellschaftlich etwas passiert. Zangger war besorgt darüber, dass seine Patienten keine adäquate Pflege erhielten. Die Anstalten, in die sie eingewiesen wurden, waren meist überfüllt. Als sozialer, religiös geprägter Mensch machte er sich Gedanken über eine angemessene Betreuung. Ihm schwebte eine privat geführte, auf christlichen Werten basierte Nervenheilanstalt vor. Die Medizin sollte professionell sein und dem wissenschaftlichen Standard entsprechen. Zudem sollten die Patienten in einem heilenden Umfeld eine liebevolle Pflege erfahren. Nach einem ersten gescheiterten Anlauf gelang es ihm – gemeinsam mit gleichgesinnten Ärzten, Juristen und Pfarrern und dank eines Legats –, die Hohenegg zu gründen.

Eine Art Start-up. In Zürich gab es ja bereits das Burghölzli, die heutige Psychiatrische Universitätsklinik. Welche Rolle spielte damals diese Institution?

Paul Hoff: Das Burghölzli ist 1871, vier Jahrzehnte vor der Hohenegg, eröffnet worden. Die Klinik hat sich rasch etabliert als zentrale Stelle für psychiatrische Forschung und Entwicklung. Am Burghölzli arbeiteten international anerkannte Psychiater wie Eugen Bleuler und sein Sohn Manfred Bleuler sowie Carl Gustav Jung. Dadurch wurde die Klinik sehr bekannt, ja zu einer Art Ikone, eine Brutstätte für Ideen, bisweilen aber auch verbunden mit unkritischer Bewunderung. Unterschiedlichste psychiatrische Konzepte wurden hier debattiert und weiterentwickelt.

Die wichtigste Figur war Eugen Bleuler.

Paul Hoff: Er hat den Begriff „Schizophrenie“ erfunden, wenn ich das mal so vereinfacht sagen darf, auch wenn „Erfindung“ in der Wissenschaft kein gern gesehener Begriff ist. Der Terminus „Schizophrenie“ hat sich damals erstaunlich schnell verbreitet. Bleuler war ein eigenständiger, Kritiker würden sagen: eigensinniger Mann. Er vertrat ein damals spezielles, heute modernes Psychiatriekonzept. Er plädierte für einen multiperspektivischen Ansatz. Für ihn waren bei der Beurteilung von Krankheiten Gehirn, Person, Lebensgeschichte und Umfeld gleichermassen bedeutsam. Obwohl er sich als biologischen Psychiater sah, war für ihn die Psychoanalyse von Sigmund Freud bei der Heilung von Schwerkranken hilfreich; in akademischen Kreisen war Freuds Theorie damals verpönt. Das Burghölzli war unter Bleuler gleichsam ein „melting pot“, wo unterschiedliche Theorien debattiert und Therapien erprobt wurden.

Ein „melting pot“ hinter dicken Mauern. Walter Denzler, die beiden psychiatrischen Institutionen unterscheiden sich baulich beträchtlich. Die Hohenegg ist alles andere als burgartig, die Gebäude sind dezentral angeordnet und offen in wunderschöner Natur gelegen. Welches waren Überlegungen beim Bau der Hohenegg, und wie wurden die Konzepte architektonisch umgesetzt?

Walter Denzler: Die unterschiedlichen Perspektiven, die Paul Hoff angesprochen hat, bewegten auch die Gründer der Hohenegg. Theodor Zangger überlegte sich, welche bauliche Umsetzung dem therapeutischen Konzept entsprechen könnte. Damals hatte sich zuerst in England, später in Deutschland und in der Schweiz die Idee durchgesetzt, dass man vom Burgartigen wegkommt, hin zu offenen, dezentralen Bauten. Theodor Zangger reiste nach England und liess sich inspirieren. Offene Anlagen, möglichst wenig Einschränkung, dezentrale Bauten in freier Natur und mit viel Licht, ausserhalb der Stadt, das war die Vorgabe. Die psychiatrische Klinik in Herisau war bereits so gebaut worden. Zangger beziehungsweise die renommierten Architekten Furrer und Rittmeyer gestalteten darauf die Hohenegg nach dem Appenzeller Vorbild. In der Hohenegg haben wir gleichsam eine dörfliche Struktur, die Häuser sind entlang einer Hauptgasse gebaut. Man blickt auf Felder, Berge und den See. Zudem wurden damals die Patienten angehalten, im landwirtschaftlichen Betrieb und in der Gärtnerei unweit der Klinik mitzuarbeiten. Das alles sollte die Genesung begünstigen.

Offene Anlagen, möglichst wenig Einschränkung, dezentrale Bauten in freier Natur und mit viel Licht, ausserhalb der Stadt, das war die Vorgabe.

Walter Denzler

Abgesehen von Forschung, Experimentieren und der therapeutischen Arbeit, die damals geleistet worden ist, in der Hohenegg und im Burghölzli – wie sah die Versorgungssituation aus?

Paul Hoff: Das ist eine wichtige Frage. Man kann sich den Kontrast zwischen den hochstehenden akademischen Debatten und der Versorgungsrealität in den damaligen grossen Kliniken kaum vorstellen. Die Versorgung war katastrophal. Die Patienten hatten zu wenig Platz, schliefen auf den Gängen. Es war unruhig. Es gab praktisch in allen Kliniken eine chronische Überlastung. Zudem arbeiteten in den Kliniken nur wenige Ärzte. Meist gab es einen Chefarzt, einen oder zwei Erste Ärzte, heute Ober- bzw. Leitende Ärzte, sowie die «Wärter». Die hiessen tatsächlich so. Sie achteten darauf, dass nichts Gravierendes geschah.

Wenn wir heute über Psychiatrie sprechen, so ist ein respektvoller Umgang mit den Patientinnen und Patienten selbstverständlich. Das war früher oft nicht der Fall. Pflegende, die sich als Gesprächspartner auf Augenhöhe verstehen und viel Fachkompetenz aufweisen, gab es damals nicht.

Die Versorgung war katastrophal. Die Patienten hatten zu wenig Platz, schliefen auf den Gängen.

Prof. Dr. Paul Hoff

Eine komplett andere Psychiatrie.

Paul Hoff: Die Absicht war zwar gut, denn die Ärzte hatten zweifellos eine am hippokratischen Eid orientierte Vorstellung von ihrem Beruf.  Aber die Realität war, wie gesagt, anders. Ich denke, die Gründung der Hohenegg geht genau auf die Wahrnehmung dieses Defizits zurück. Zum Glück gab es Leute, die altruistisch handelten, genug Geld hatten sowie Engagement und politischen Willen zeigten. Nur so gelang es, die Hohenegg zu gründen.

Was verbindet die heutige Klinik in der aktuellen Form mit der ursprünglichen Architektur der Hohenegg?

Walter Denzler: Von 2008 bis 2014 ist die Klinik umgebaut und erweitert worden. Da die Hohenegg unter Denkmalschutz steht, könnte man sagen, wir haben nur deshalb vieles so belassen, wie es war. Das stimmt aber nicht ganz. Wir haben die gesamte Anlage, den Park und die Wege genau analysiert und die denkmalgeschützten Bauten in eine moderne Privatklinik mit hohem Standard überführt und aufgewertet. Zudem erstellten wir mit den Architekten Romero und Schaefle zwei Neubauten, die das bestehende Ensemble hervorragend ergänzen. Die Klinikanlage entspricht seit dem Umbau den Anforderungen einer modernen Psychiatrie noch mehr.

Eine gelungene Verbindung zwischen Altem und Neuem. Wenn wir den Brückenschlag machen von der Gegenwart in die Zukunft – ist für Sie als Psychiatriegeschichtsexperte, Paul Hoff, die Psychiatriehistorie „nur“ eine Wissenschaft oder auch bedeutsam für die Weiterentwicklung von Psychiatrie und Psychotherapie?

Paul Hoff: Ich werde von Kolleginnen und Kollegen immer wieder gefragt, weshalb ich mir das Studium der alten, musealen Bücher „antue“. Für mich ist die Geschichte der Psychiatrie für die Weiterentwicklung des Fachs sehr bedeutsam, ebenso wie für das Verständnis der modernen Psychiatrie. Es gibt, denke ich, zwei Hauptgründe für die Beschäftigung mit Psychiatriegeschichte, und beide haben mit dem Respekt gegenüber den Patienten zu tun. Erstens ist das Forschungsobjekt der Psychiatrie eigentlich kein Objekt, sondern ein Subjekt. Natürlich betreibt die Psychiatrie empirische Forschung, misst und erstellt Statistiken. Aber im Zentrum steht der psychisch kranke Mensch. Da ist es wichtig, dass wir die ideengeschichtlichen Hintergründe unserer Konzepte wahrnehmen und daraus lernen. Zweitens ist die Disziplin stark verbunden mit gesellschaftlichen Werten und Normvorstellungen, die sich laufend verändern. Auch um dies einordnen zu können, müssen wir wissen – und reflektieren –, auf welchen historischen Grundlagen sie fussen.

Wir haben historische Wurzeln betrachtet und sind nun in die Gegenwart angelangt. Was wünschen Sie der Privatklinik Hohenegg beziehungsweise der Psychiatrie für die Zukunft?

Walter Denzler: Visionäre, kreative und mutige Schritte für die Weiterentwicklung der Hohenegg. Dazu gehört bestimmt auch das Einfliessen von unterschiedlichen Perspektiven. Theodor Zangger ist da ein Vorbild.

In der Psychiatrie ist in den letzten 200 Jahren zwischen unvereinbaren Positionen viel gestritten worden. Wir sollten Konfrontation und Besserwisserei hinter uns lassen.

Prof. Dr. Paul Hoff

Paul Hoff: In der Psychiatrie ist in den letzten 200 Jahren zwischen unvereinbaren Positionen viel gestritten worden. Wir sollten Konfrontation und Besserwisserei hinter uns lassen. Alle reden von bio-psycho-sozialen Modellen, aber sie werden zu wenig gelebt. Ich wünsche mir, dass die psychiatrischen Institutionen den Mut haben, wie das Walter Denzler angesprochen hat, im therapeutischen Alltag verschiedene, sich ergänzende Perspektiven zu berücksichtigen. Nicht jeder muss (und kann) alles wissen und machen, aber die unterschiedlichen Exponenten sollten ernsthaft miteinander reden. Das ist in der Vergangenheit zu selten geschehen.

Interview: Sabine Claus
Aufgezeichnet von Rolf Murbach

Autor*innen

  • Walter Denzler

    Verwaltungsdirektor, Vorsitzender der Klinikleitung

  • Prof. Dr. med. Dr. phil. Paul Hoff

    Wissenschaftlicher Beirat, Leitender Arzt für ambulante Sprechstunden

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