Einsamkeit

In der Schweiz fühlt sich jeder Dritte einsam, und fast die Hälfte der 15- bis 24-Jährigen erlebt manchmal oder häufig Einsamkeit. Es ist belegt, dass Einsamkeit ein grosser Risikofaktor für körperliche und psychische Krankheit ist.

In der Schweiz fühlt sich jeder Dritte einsam, und fast die Hälfte der 15- bis 24-Jährigen erlebt manchmal oder häufig Einsamkeit.

Foto von Keenan Constance auf Pexels

Chronisches Einsamkeitserleben erhöht den Stresspegel und kann sowohl zu Depressionen, Angsterkrankungen, nachlassender Hirnleistung als auch zu kardiovaskulären Erkrankungen, Schwächung des Immunsystems, Entzündungen und Krebs führen. In Studien konnte man zeigen, ganz plakativ ausgedrückt, dass chronisches Einsamkeitserleben so gesundheitsschädlich ist wie 15 Zigaretten am Tag.

Viele ältere Menschen empfinden Einsamkeit, weil sie das Gefühl haben, nicht mehr gebraucht zu werden, fühlen sich oft von der Welt abgeschnitten, auch weil sie aufgrund von Gebrechlichkeit nicht mehr so mobil sind, eher sozial isolierter und weil ihnen nahestehende Menschen mit zunehmendem Alter sterben.

Ministerium für Einsamkeit

Einsamkeit ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, beeinträchtigt Betroffene massiv und führt zu hohen volkswirtschaftlichen Kosten. In England hat man dies erkannt und gibt mit einem Ministerium für Einsamkeit Gegensteuer. In den Niederlanden bestehen mehrere Initiativen, die Einsamkeit bekämpfen. Und auch in der Schweiz haben sich verschiedene Akteure den Themen Einsamkeit und soziale Isolation angenommen: vor allem Vereine und kleinere Institutionen, wie zum Beispiel das Zürcher Start-up «Rent a Rentner». Mehrgenerationen-Projekte, Alterswohngemeinschaften und einige politische Initiativen befassen sich ebenfalls mit der Thematik, Städte publizieren Leitfäden gegen soziale Isolation.

Solche Initiativen sind absolut notwendig. Einsamkeit muss enttabuisiert und in der Gesellschaft breit diskutiert werden. Unsere Patientinnen und Patienten schämen sich oft für ihr Einsamkeitserleben und haben Mühe, darüber zu reden. Dabei wäre gerade dies sehr wichtig. Menschen müssen erfahren, dass sie mit ihrem Einsamkeitserleben nicht allein sind. Das Erleben des Unverbundenseins gehört zu unserem Menschsein.

Wir haben zunehmend Menschen unter dreissig bei uns, mehr als das früher der Fall war.  Ein Grund dafür liegt wohl in der Pandemie. Junge Frauen und Männer litten besonders unter den sozialen Einschränkungen während der Krise.

Dr. med. Katrin Merz

Vernetzung ist wichtig

Vernetzungsangebote sind hierbei äusserst hilfreich: Besuchsdienste, Treffpunkte, Austauschgruppen. Auch wir in der Hohenegg schauen während des stationären Aufenthaltes, welche Vernetzungsangebote wir für die Zeit nach dem Austritt organisieren können.

In unserem therapeutischen Alltag beobachten wir, dass Einsamkeit nicht nur ältere Menschen, sondern auch jüngere betrifft. Studien belegen das ebenfalls. Wir haben zunehmend Menschen unter dreissig bei uns, mehr als das früher der Fall war.  Ein Grund dafür liegt wohl in der Pandemie. Junge Frauen und Männer litten besonders unter den sozialen Einschränkungen während der Krise.

Wie kann Betroffenen geholfen werden? Schon der Eintritt in die Klinik vermag Einsamkeitserleben zu lindern. Gerade Patientinnen und Patienten, die zuhause zurückgezogen oder isoliert gelebt haben, finden bei uns einen Resonanzraum. Sie sind im Kontakt mit Ärztinnen, Therapeuten und anderen Patienten. Sie können sich austauschen in einem vertrauensvollen Umfeld und fühlen sich verstanden. Gemeinschaft ist ein relevanter Faktor von Gesundheitsprävention.

Die Wichtigkeit solcher Resonanzräume ist nicht genug zu betonen. Weil Menschen soziale Wesen sind, einander brauchen, auf gemeinsame Erfahrungen und den Austausch existenziell angewiesen sind. Wir sehen immer wieder, wie Patienten aufblühen, wenn sie sich mit anderen über ähnliche Erfahrungen austauschen. Sie merken, dass sie nicht alleine mit ihrem Leiden sind und erleben das als entlastend.

Bei sich sein

Authentische, gegenseitig nährende Beziehungen sind nur möglich, wenn wir in Verbindung mit uns selbst sind und uns trauen, uns mitzuteilen, in Verbindung zu gehen mit anderen. Denn Einsamkeit gibt es auch in Gesellschaft. Man kann sozial sehr eingebunden sein und sich dennoch einsam fühlen. Auch spielen oft negative Beziehungserfahrungen und somit fehlendes Vertrauen in andere, verbunden mit Rückzug und folgendem Einsamkeitserleben, eine Rolle. Im therapeutischen Prozess geht es unter anderem darum, mit sich in Verbindung zu kommen. Achtsamkeitsübungen und andere Spezialtherapien helfen dabei, eigene Bedürfnisse, Gedanken und Gefühle wahrzunehmen, mit sich in Verbindung zu kommen, möglicherweise auch einen freundlicheren Umgang mit sich selbst zu erlernen. Das wären Voraussetzungen für das Gelingen von gegenseitigen authentischen, nährenden Begegnungen – sozusagen das Antidot zu chronischem Einsamkeitserleben.

Man kann darüber spekulieren, was alles zur grassierenden Einsamkeit beiträgt. Der fortschreitende Individualismus, die Lebens- und Wohnformen – 1.3 Millionen Menschen leben in einem Einpersonenhaushalt –, eine Arbeitswelt, die immer mehr Burnout-Fälle produziert, Berufstätigkeiten, die als wenig sinnvoll wahrgenommen werden, oder die schwindende Bedeutung von Gemeinschaft. Klar ist, das Thema wird uns noch lange beschäftigen. Scheidungen, Trennungen und die demographische Entwicklung tragen dazu bei.

Auch die sozialen Medien fördern wirkliche Beziehungen nicht. Denn die Friends und Follower sind mehr Schein als Sein, oft der Selbstinszenierung und Selbstoptimierung verpflichtet. Menschen fühlen sich auch deshalb bedürftig, weil sie zu viel Zeit in einer virtuellen Welt verbringen und immer mehr Dienstleistungen über Online-Plattformen beziehen oder Käufe im Internet tätigen. Reale, zufällige und authentische Begegnungen finden so weniger statt. Kommt hinzu, dass wir häufig nicht da sind, wo wir sind, sondern schon beim Nächsten. Die vielen Optionen und die Angst, etwas zu verpassen, zerstreuen uns. Dabei wäre es einfach: einhalten, achtsam sein, ein vertrauensvolles Gespräch führen. Wir brauchen das Gemeinsame, den Austausch, wir brauchen nährende Begegnungen.

Lesetipps

  • Diana Kinert, Marc Bielefeld: Die neue Einsamkeit. Und wie wir sie als Gesellschaft überwinden können.  Hoffmann und Campe 2021. Ca. 33 Franken.
  • Noreena Hertz: Das Zeitalter der Einsamkeit. Über die Kraft der Verbindung in einer zerfaserten Welt. HarperCollins 2021. Ca. 35 Franken.
  • Christine Brähler: Neue Wege aus der Einsamkeit. Mit Selbstmitgefühl zu mehr Verbundenheit finden. Irisiana 2020. Ca. 29 Franken

Autor*innen

  • Dr. med. Katrin Merz

    Leitende Ärztin

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