Sabine Claus: Kann man Depressionen mit Medikamenten heilen?
Cäsar Spisla: Antidepressiva sind ein wichtiger Baustein in der Behandlung von Menschen mit Depressionen. Je schwerer eine Depression ist, desto wichtiger ist die Rolle von Antidepressiva. Vor allem bei sehr starken depressiven Erkrankungen ist der Einsatz von Medikamenten enorm bedeutsam. Bei einer leichteren Ausprägung sind Antidepressiva jedoch nicht wirksamer als ein Placebo. Das bedeutet: Der Schweregrad einer Erkrankung ist mit entscheidend, ob und welche Antidepressiva verabreicht werden.
Sabine Claus: Wird in der Hohenegg mit Placebos gearbeitet?
Cäsar Spisla: Ja, und zwar im Einverständnis mit den Patientinnen und Patienten. Wichtig ist auch, dass wir sie darüber aufklären, wie Placebos wirken. Die Wirkung ist häufig erstaunlich gut. Antidepressiva entfalten ihren Nutzen in der Regel zwischen Tag 10 und 14 nach Einnahme des Medikamentes. Viele Patienten merken jedoch bereits ab Tag 1, dass sich etwas ändert – das ist der Placebo-Effekt.
Josef Jenewein: Wir gehen mit dem Thema Placebo offen um. Ein positiver Effekt der Placebowirkung, die bei fast jedem Medikament zu beobachten ist, kann sein, dass wir eine geringere Dosis eines Antidepressivums verabreichen können. Generell zum Einsatz von Psychopharmaka: Deren Wirksamkeit ist wissenschaftlich gut belegt, und sie wirken am besten in Kombination mit einer Psychotherapie.
Cäsar Spisla: Psychotherapie hat bei der Behandlung von Depression einen hohen Stellenwert, vor allem bei Menschen mit mittelschwerer Ausprägung der depressiven Symptomatik. Wie Josef Jenewein sagt: Ideal ist die Kombination von Medikamenten und Psychotherapie. Die Patienten können hier mitbestimmen, was für eine Behandlung sie sich wünschen. Viele sagen allerdings, dass es ihnen egal sei, was eingesetzt würde – Hauptsache, der Leidensdruck würde reduziert.
Sabine Claus: Wie kann man die Zeit überbrücken, bis ein Medikament wirkt?
Cäsar Spisla: Mit allen geeigneten Mitteln, die dazu beitragen, Angst, Anspannung, Schlaflosigkeit und andere begleitende Symptome zu reduzieren. Neben der Gesprächstherapie sind das Sport, Entspannungstechniken sowie Beruhigungsmittel.
Josef Jenewein: Wir nehmen in der Hohenegg vorwiegend Menschen mit schweren Depressionen auf. Schon der Klinikaufenthalt allein bringt dank der klaren Struktur eine gewisse Entlastung. Die Patientinnen und Patienten können Verantwortung abgeben, anfangs auch mal länger im Bett bleiben und müssen sich in dieser Zeit nicht mehr um Alltagsaufgaben kümmern.
Sabine Claus: Was tut ihr, wenn ihr merkt, dass die Medikamente nicht wirken?
Cäsar Spisla: Es dauert, wie gesagt, einige Tage, bis ein Antidepressivum wirkt. Man sollte daher nicht allzu früh intervenieren. Möglicherweise muss man später die Dosierung anpassen oder das Medikament wechseln.
Josef Jenewein: Was wir auf jeden Fall nicht tun: ein Medikament lange verschreiben, wenn es nichts bringt. Auch Nebenwirkungen können ein Grund sein, weshalb wir eine Medikation ändern. Und wir müssen darauf achten, wie ein Antidepressivum mit anderen Medikamenten interagiert.
Sabine Claus: Es gibt auch Menschen, die gegenüber Psychopharmaka skeptisch sind. Wie geht ihr damit um?
Cäsar Spisla: Es ist wichtig, dass wir diese Bedenken ernst nehmen und über Skepsis und Ängste offen reden. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Therapie dennoch voranzutreiben: das genaue Erklären der Wirkmechanismen der Medikamente, das Verschreiben einer geringen Dosis oder der Einsatz von pflanzlichen Mitteln. Letztere können allerdings auch unerwünschte Nebenwirkungen zeigen.
Josef Jenewein: Wichtig ist die Information der Patientinnen und Patienten. Wir haben an der Hohenegg ein eigenes System für den Einsatz von Medikamenten entwickelt. Dieses System sorgt für Transparenz. Auf Karten, die wir Patientinnen und Patienten abgeben, sind ausführliche und allgemein verständliche Informationen über das verordnete Medikament zu lesen. Und wir erklären unseren Patienten, wie die Medikamente wirken, welche Nebenwirkungen es geben kann. Häufig tauchen in den Gesprächen dann auch Themen wie Angst vor Abhängigkeit, vor Kontrollverlust auf. Wir sagen unseren Patienten dann, dass die Kontrolle immer bei ihnen liege. Sie können entscheiden, ob sie ein Medikament nehmen oder nicht. Diese Gespräche sind meist sehr hilfreich, schaffen Vertrauen und zeigen zudem auf, welche anderen Themen psychotherapeutisch relevant sind.
Cäsar Spisla: Regelmässig taucht die Frage auf, ob Psychopharmaka persönlichkeitsverändernd sind. Das sind sie nicht. Aber wir nehmen die Sorgen der Patienten ernst und sehen immer wieder, wie wichtig klärende Gespräche sind.
Sabine Claus: Was passiert, wenn eine Patientin partout auf den Einsatz von Medikamenten verzichten will?
Cäsar Spisla: Wir akzeptieren diesen Entscheid. Je nach Schweregrad der Krankheit ist es legitim, sich auf Alternativmethoden, Psychotherapie und unser «Hohenegger Paket» mit seinen klaren Strukturen und den vielen Entspannungsmassnahmen zu beschränken. Alle unsere Therapien tragen zur Heilung bei: Bewegung, Gespräche mit den Therapeutinnen und Therapeuten, aber auch die Gruppengespräche mit den anderen Patientinnen und Patienten, kreative Tätigkeiten wie Gestalt-, Mal- und Musiktherapie oder Lichttherapie.
Josef Jenewein: Ich weise jeweils darauf hin, dass eine Behandlung ohne Psychopharmaka länger dauern kann. Die Behandlungsdauer bei uns ist ja beschränkt und insofern besteht auch ein gewisser Zeitdruck. Zudem ist eine Depression, wenn sie sich über mehrere Monate erstreckt, auch belastender. Das gilt es zu bedenken. Aber wie gesagt, wenn sich jemand gegen Medikamente entscheidet, auch aus Gründen, die nicht unbedingt rational sind, akzeptieren wir das.
Sabine Claus: Verkürzt sich die Behandlung einer Depression mit Medikamenten?
Cäsar Spisla: Das Risiko einer Chronifizierung ist geringer. Wenn man die Leidenszeit verkürzen kann, ist das nur gut. Für Patientinnen und Patienten auf jeden Fall, aber auch für Angehörige, die meist ebenfalls stark betroffen sind und mitleiden.
Josef Jenewein: Mit dem Einsatz von Medikamenten kann die Behandlungszeit meist deutlich reduziert werden. Das heisst, die Patienten sind schneller handlungsfähig, können gewohnte Aktivitäten wieder aufnehmen, was den Heilungsprozess begünstigt. Sie lesen zum Beispiel Zeitung, hören Radio, haben die Kraft, etwas zu unternehmen. Bemerkenswert ist, dass die Patientinnen und Patienten diese Verbesserungen ihres Zustandes nicht immer gleich merken. Es wird ihnen erst bewusst, wenn man sie spiegelt, ihnen zum Beispiel sagt: „Jetzt sind Sie nach draussen gegangen, haben ein Buch gelesen. Das wäre vor drei Wochen nicht möglich gewesen.“
Cäsar Spisla: Wir arbeiten auch mit Selbsteinschätzungsskalen. So erkennen die Patientinnen und Patienten ihre Fortschritte. Sie sehen durch die Punktevergabe schwarz auf weiss, wie sich ihr Befinden verbessert – obwohl sie das subjektiv in einem bestimmten Moment nicht so wahrnehmen. Dieses Wissen bzw. Erkennen trägt zur Genesung bei.
Aufgezeichnet von Rolf Murbach