Sabine Claus: Welche spezifischen Therapieansätze und Techniken halten Sie mit Ihrer langjährigen Expertise bei der Behandlung von Traumata als besonders wirksam?
Wolfgang Gerke: Die Frage ist nicht pauschal zu beantworten, weil Traumata zu sehr unterschiedlichen Störungen führen können. Die so genannten Traumafolgestörungen umfassen mehr als die posttraumatischen Belastungsstörungen, die einem als erstes in den Sinn kommen, wenn man an Trauma denkt. Traumafolgen können sein: eine chronisch verlaufende Depression bei Menschen, die nicht gut auf eine Pharmakotherapie ansprechen und die auch psychotherapeutisch schwer zu behandeln sind; dazu das Spektrum der dissoziativen Störungen, Angststörungen sowie Substanzkonsumstörungen. Süchte haben oft einen traumatischen Hintergrund. Traumafolgestörungen sind heterogen und individuell. Von daher ist es schwierig, für die Behandlung von Traumata einen spezifischen Therapieansatz hervorzuheben. In unseren Therapien versuchen wir, den individuellen Faktoren gerecht zu werden.
Wichtig ist auch die therapeutische Beziehung.
Die therapeutische Beziehung ist enorm wichtig für den Behandlungserfolg. Da sind sich Therapeutinnen und Therapeuten aller Schulen einig. Je nach Hintergrund des Therapeuten gibt es Differenzierungen. Für manche stellt die Beziehung einen Rahmen oder ein Fundament dar, für andere ist die Gestaltung von Beziehung das therapeutische Mittel. Traumatisierung bedeutet: Verlust von Kontrolle und Sicherheit. Die therapeutische Beziehung trägt dazu bei, wieder Sicherheit zu erlangen.
Wie wichtig ist es für Patientinnen und Patienten zu verstehen, was mit ihnen geschieht, wie eine Therapie «funktioniert»?
Wir sprechen von Psychoedukation. Wenn ein Patient versteht, welche Symptome durch Traumafolgestörungen ausgelöst werden können und dass dies nicht ein persönliches Defizit darstellt, sondern Teil eines Prozesses ist – den viele Menschen ähnlich erleben –, dann ist das erleichternd. Dieses Verständnis schafft Orientierung und trägt dazu bei, die Kontrolle wiederzuerlangen, was einem psychologischen Grundbedürfnis entspricht. Die Patientinnen und Patienten erfahren ein Gefühl von Sicherheit, insbesondere gegenüber dem eigenen inneren Erleben.
Wie relevant sind im therapeutischen Prozess individuelle und kulturelle Unterschiede?
Ich denke, bei allen Psychotherapien sind Hintergrund, Werte und Ressourcen der Patientinnen und Patienten von Bedeutung. Wie verarbeitet sie oder er Informationen und wie finden sie stimmige Antworten auf ihr Erleben – dies sind wichtige Faktoren in einer Therapie. Auch der kulturelle Hintergrund ist bedeutsam, wobei wir hier in der Schweiz zum Teil Mühe haben, uns das Ausmass von Gewalterfahrung und Traumatisierung, wie es zum Beispiel PatientInnen aus Kriegsgebieten erfahren haben, vorzustellen.
Die Hohenegg ist keine Akutklinik. Patienten mit starken Traumata kommen in der Regel nicht sofort zu uns, sondern erst nach einigen Wochen oder Monaten. Ist das ein Nachteil?
Nicht unbedingt. Eine Stabilisierungsphase etabliert sich in den meisten Fällen auch ohne unmittelbare Therapie. Man weiss sogar, dass es wenig sinnvoll ist, sofort nach einem erlebten Trauma mit einer Traumatherapie zu beginnen. Nach akuter Traumatisierung haben viele Menschen genügend Ressourcen und Selbstheilungskräfte, um mit dem traumatischen Erlebnis zurechtzukommen. Auch das soziale Umfeld der Betroffenen spielt eine tragende Rolle. Häufig entwickeln Betroffene keine posttraumatische Belastungsstörung. Eine zu früh erfolgte therapeutische Intervention kann daher schaden.
Was brauchen Patientinnen und Patienten in dieser frühen Phase?
Man sollte sich an ihren Bedürfnissen orientieren. Dazu gehören ein vertrauensvolles Umfeld, Rückzugsmöglichkeiten, Ruhe und Zeit, damit die Patienten das Geschehene verarbeiten können. Sinnvoll ist professionelle Hilfe, Gespräche, sofern die Patienten dies wünschen. Aber man sollte, wie gesagt, nicht zu früh mit traumaspezifischen Massnahmen beginnen.
Wie gehen Sie als Therapeut mit sehr schwierigen und komplexen Fällen um? Wenn die Patienten Rückfälle erleiden, die Therapie nicht anschlägt?
Man muss geduldig sein. Psychologische Veränderungsprozesse brauchen Zeit. Druck erhöht den Stress, und Stress verhindert Lernen und die Neuausrichtung des Alltagserlebens. Und ich versuche immer, Zuversicht zu vermitteln. Aber klar, wenn Heilungsverläufe sich sehr langsam gestalten, dann muss man allenfalls auch die therapeutische Strategie überdenken. Ich versuche, versteckte, die Krankheit verlängernde Faktoren aufzudecken. Dazu gehören anhaltende Bedrohungen und Retraumatisierungen. Oft ist eine Expositionstherapie notwendig, damit der Patient in seiner Lebensgestaltung weniger eingeschränkt ist. Dies ist nicht immer einfach.
Welche Rolle spielt das Umfeld der Patientinnen und Patienten?
Auch Angehörige und nahe Freunde sollten die Situation und das Erleben eines Patienten verstehen. Wir beziehen daher das Umfeld der Patienten bei unserer Arbeit mit ein. Wir führen Gespräche mit ihnen. Psychoedukation ist auch für die nächsten Menschen eines Patienten von Bedeutung. Die Verarbeitungsvorgänge sollen ihnen ebenfalls bewusst sein. Menschen mit einer Traumafolgestörung neigen dazu, sich zurückzuziehen, empfinden häufig Scham oder fühlen sich schuldig, weil sie vieles, was für sie vorher normal war, nicht mehr leisten können. Sie erleben sich als nicht mehr lebenstüchtig. Durch eine verständnisvolle Haltung können nahe Menschen die Scham und die Schuldgefühle der Betroffenen abmildern.
Patienten wollen aber auch nicht «in Watte gepackt» sein, wollen am Leben weiterhin teilnehmen.
Das ist richtig. Die Betroffenen fühlen sich auch nicht immer krank und schlecht. Von daher ist möglichst viel Normalität hilfreich.
Diese Massnahmen spielen in der Traumatherapie eine grosse Rolle. Traumata sind auch verkörpert, gleichsam im Körper festgeschrieben. Daher ist eine nur verbal orientierte Therapie oft unzureichend. Körperarbeit ist äusserst hilfreich. Körperorientierte Traumatherapien wie zum Beispiel Yoga haben eine lange Tradition. Achtsamkeitstraining ist ebenfalls sinnvoll, weil es zur Stressminimierung beiträgt. Aber die Erfahrung zeigt auch, dass Achtsamkeitsübungen für Patienten schwierig sein können. Wenn man sich aufs Meditationskissen setzt und die Augen schliesst, dann tauchen möglicherweise belastende Bilder wieder auf, was für den therapeutischen Prozess hilfreich sein kann, aber nicht einfach auszuhalten ist. Es braucht also ein individuell abgestimmtes Vorgehen: den Patienten fordern, aber nicht überfordern.
Was kann die Pflege und Sozialarbeit tun?
Auch sie sind wichtig. Sie begleiten die Patienten mit viel Fachwissen und Erfahrung. Es ist für Traumatisierte wie für alle Patienten wichtig und segensreich, wenn sie Menschen zur Seite haben, die sie unterstützen – auch in alltäglichen und bürokratischen Dingen. Sie sorgen für eine Tagesstruktur und gewähren regelmässige soziale Kontakte. Wir haben ein Bezugspflegesystem. In dem Rahmen finden regelmässig 1-zu-1-Gespräche statt.
Sie haben langjährige Erfahrung mit Traumabehandlungen. Sind Traumata heilbar?
Traumata liegen in der Vergangenheit, die man nicht ändern kann. Aber was aus Menschen wird, die ein Trauma erlitten haben, ist ein zukunftsgerichteter Prozess. Die Zukunft lässt sich immer positiv beeinflussen. Wir haben keine Garantie, dass eine Heilung gelingt, aber es besteht die Möglichkeit dazu. Heilung ist komplex. Es ist das Ziel, dass sich ein Mensch geheilt fühlt, im Sinne von ganz und integriert. Das kann ein längerer Prozess sein. Wichtig ist, dass Betroffene die Hoffnung nicht aufgeben. Ich erlebe Patientinnen und Patienten, die über viele Jahre an einer Traumafolgestörung leiden und irgendwann zu dem Punkt kommen, wo sie sagen: Mein Alltag ist lebenswert, ich gehe meinen Weg und es gibt Heilung, auch wenn ich von Symptomen nicht vollständig befreit bin.
Aufgezeichnet von Rolf Murbach