Neuroplastizität – ein Segen mit Schattenseiten
Prof. Jäncke erinnerte daran, dass unser Gehirn jahrzehntelang als statisches Organ galt, heute aber als hochempfindliches „Lernorgan“ verstanden wird: „Dank moderner Bildgebung sehen wir, dass Musiker, Mathematiker oder Spitzensportler anatomisch unterschiedliche Hirnregionen ausbilden. Das Gehirn passt sich an Erfahrung und Kultur an.“ Diese Plastizität ermögliche uns nicht nur Sprachenlernen bis ins hohe Alter, sondern auch die Erfindung von Kulturen – und mitunter „den grössten Blödsinn, den Menschen sich vorstellen können“. Jäncke: „Was das menschliche Hirn an Kultur kreiert, kann es auch zerstören. Denken Sie nur an wilde Online-Verschwörungstheorien: Was auch immer Sie erfinden – es gibt Zehntausende, die es teilen.“
Kommunikation 2.0 versus nonverbale Signale
Aus neuropsychologischer Sicht könne digitale Kommunikation die alten Mechanismen der Theory of Mind stören:„Augenkontakt, Mimik, Gestik – unser Gehirn ist über Millionen Jahre darauf programmiert, nonverbale Signale zu lesen. Auf Zoom aber sehen wir nur ein fragmentiertes Abbild.“ Jäncke warnt vor falscher Vertrautheit in Chatgruppen: Der „zweidimensionale Avatar“ unterminiere wichtige Vertrauensmechanismen, die sonst durch physische Präsenz und ständige, subtile Rückmeldungen stabilisiert würden.
Kinder, Schule und die Reizüberflutung
Gerade Heranwachsende leiden unter der digitalen Allgegenwart: Der Frontalkortex reift erst mit Mitte 20 aus, doch schon in der Grundschule drängen iPads und Smartphones in den Unterricht. Jäncke plädiert für klare Regeln: „Ich würde alle iPhones am Schulhaus-Eingang einsammeln und erst nach der letzten Stunde wieder aushändigen.“ Seine Begründung: Schon die blosse Präsenz des Handys lenke ab und verhindere tiefes, konzentriertes Lernen. Zugleich erkennt er Chancen: Digitale fachbezogene Apps können komplexen Stoff anschaulich vermitteln – wenn Lehrende klare Konzepte entwickeln, um Ablenkung zu verhindern.
Psychische Gesundheit zwischen Bildschirm und Sprechzimmer
Prof. Hasler ergänzte, dass Online-Angebote bei leichten Depressionen hilfreich sein können. Jäncke jedoch betont den Urinstinkt des Menschen, „Nähe und Empathie im echten Miteinander zu spüren“: „Corona hat gezeigt, wie sehr wir nach physischen Begegnungen hungern. Tausende strömten beispielsweise nach Aufhebung der Ausgangssperren in Zürich an den See.“ Für Psychotherapie bleibe die persönliche Beziehung unersetzbar, weil nur sie echtes Mitgefühl und Verständnis vermittele – nicht eine KI oder ein Chatbot.
Die Zukunft im Blick – Roboter, Bewusstsein, Ethik
Abschliessend wagte Jäncke einen Ausblick: Werden wir bald „Roboter mit menschlichem Bewusstsein“ bauen? „Bewusstsein ist für mich ein Epiphänomen des biophysikalisch arbeitenden Gehirns. Warum sollten Computer nicht irgendwann ähnliche Prozesse erzeugen?“ Solche Fragen berühren Grundsätzliches: Wer sind wir, wenn wir unser echtes Hirngewebe durch Mikrochips ersetzen oder uns Avatare zulegen, die wir nicht mehr von Menschen unterscheiden? Die Ethik werde hier oft dem Fortschritt hinterherschauen.
Fazit
Die Diskussion im Rahmen dieses Hohenegg-Gesprächs machte eines klar: Digitalisierung kann bereichern – doch das analoge Fundament des Menschen, seine soziale Natur und die Gabe, in physischen Begegnungen zu lernen, zu vertrauen und zu heilen, bleibt unantastbar. Prof. Jäncke und Prof. Hasler rufen dazu auf, Technik mit klaren Grenzen und Konzepten zu nutzen und das Wertvollste zu bewahren: den Menschen von Angesicht zu Angesicht.
Gregor Hasler und Lutz Jäncke zur Frage, wie man sein Gehirn in Zeiten fortschreitender Digitalisierung gesund hält:
Hier geht es zur Kurzfassung des Hohenegg-Gesprächs – sehen Sie sich den Video-Zusammenschnitt mit den Highlights an.