Kintsugi-Workshop an der Privatklinik Hohenegg: Einblicke in japanische Reparaturkunst und Resilienz

Die Privatklinik Hohenegg ermöglichte ihren Mitarbeitenden eine Weiterbildung in der Kunst des Kintsugi. Unter der Anleitung von Marta Nishimura vertieften sie sich in eine Technik, die Brüche und Reparatur als Teil des Lebens und der Heilung betrachtet. Die Kunst der Heilung – Kintsugi und die Begegnung mit Marta Nishimura in der Privatklinik Hohenegg brachten ein tieferes Verständnis von Heilungsprozessen.

Schnelligkeit, Perfektion und Effizienz prägen unsere Zeit. Die japanische Keramikkunst des Kintsugi bietet einen Kontrapunkt und betont die Schönheit des Unvollkommenen. Die Privatklinik Hohenegg hatte die Ehre, Marta Nishimura, eine Meisterin dieser besonderen Technik, zu Gast zu haben. Marta Nishimura, die in der Kunstwelt unter dem Namen Kristina Mar bekannt ist, führte an zwei Halbtagen zehn interessierte Mitarbeiterinnen aus den Bereichen Pflege und Gestaltungstherapie in die Philosophie und Praxis des Kintsugi ein. Der Kontakt zu dieser faszinierenden Künstlerin entstand über Prof. Dr. med. Stefan Büchi, den ehemaligen ärztlichen Direktor der Privatklinik Hohenegg. Bei einem Japan-Besuch im April 2024 hatte er die Gelegenheit, Frau Nishimura in ihrem Atelier in Kyoto zu treffen und den Ost-West-Dialog über Heilkunst und psychische Gesundheit zu vertiefen. Dr. med. Felicitas Sigrist, Leitende Ärztin, Leiterin Angebotsentwicklung und Spezialtherapie hat diese Weiterbildung mit Marta Nishimura in der Privatklinik Hohenegg ermöglicht.

Kintsugi bedeutet wörtlich übersetzt «Goldverbindung» und ist die Kunst, zerbrochene Keramikstücke mit Urushi-Lack und pulverisiertem Gold zu reparieren. Diese Technik entstand im 15. Jahrhundert und gilt als eine der höchsten Formen japanischer Handwerkskunst. Doch mehr als das: Kintsugi ist eine Metapher für das Leben selbst – für Brüche und Narben, für Verletzungen und Heilung. Im Gegensatz zu vielen westlichen Konzepten, die sich auf die Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands konzentrieren, stellt Kintsugi die reparierten Stellen in den Vordergrund und zeigt, dass die Wunden einer Person – seien sie physischer oder psychischer Natur – Teil ihrer Geschichte und ein Zeichen von Resilienz und Stärke sind.

Marta Nishimura selbst sieht in dieser Kunstform weitaus mehr als eine blosse Technik: «I would be delighted to introduce you to this great practice, as I see it, that is much more than a technique and has conquered so many people’s hearts for many different reasons.» Sie betont, dass Kintsugi nicht nur eine Möglichkeit ist, beschädigte Gegenstände zu reparieren, sondern eine tiefere Dimension von Heilung und Akzeptanz anspricht. Das bewusste Erleben der Reparatur, der Achtsamkeit im Umgang mit den Materialien und die Geduld, die es braucht, um die zerbrochenen Teile wieder zusammenzufügen, kann auf die persönliche Entwicklung und den Heilungsprozess übertragen werden.

Der von Dr. med. Felicitas Sigristorganisierte Workshop, bot den Teilnehmerinnen aus der Gestaltungstherapie und Pflege die Möglichkeit, diese besondere Technik selbst zu erproben. Marta Nishimura erklärt: «Talking especially of those who could start seeing the repair or recovery applied literally and metaphorically to one’s lives, problems and personal challenges, besides all those who could enter a beautiful and skillful craft with traditional simplicity and with only natural materials.» Kintsugi erfordert nicht nur eine handwerkliche Präzision, sondern auch eine innere Haltung: die Akzeptanz des Zerbrochenen, die Entscheidung, es nicht zu verbergen, und die Fähigkeit, die Bruchstellen als neue Schönheit zu begreifen.

Marta Nishimura sieht in der Kunstform einen Prozess, der Menschen dabei unterstützt, sich mit ihren eigenen Wunden auseinanderzusetzen – sei es in der Verarbeitung traumatischer Erlebnisse oder bei alltäglichen Herausforderungen. «Although Kintsugi is indeed a branch of the much more complex Japanese craft of lacquer ware, it became an art in itself after its philosophical context started being widely appreciated by the common people, not only by tea ceremony masters as in its beginnings.» So wie in der traditionellen Teezeremonie Schalen zerbrechen und durch Kintsugi nicht nur repariert, sondern neu belebt werden, findet auch die menschliche Seele in der Akzeptanz der Brüche und in der bewussten Wiederherstellung der eigenen Integrität einen neuen Ausdruck von Stärke und Resilienz.

Kintsugi und die Kunst der Heilung

Nachfolgend beschreiben wir einige wichtige Erfahrungen, die wir im Rahmen des Workshops mit Marta Nishimura sammeln durften:

Anerkennen, dass ein Bruch geschehen ist
Im ersten Schritt nahmen wir die Scherben von zerbrochenen Gegenständen wie Tellern, Schalen und Tassen behutsam auf und betrachteten die Bruchstellen. Jeder Riss und jede Kante erzählte eine eigene Geschichte. Wir mussten die Zerstörung erst einmal als Realität anerkennen. Dabei war es wichtig, uns dem Zustand zu stellen, in dem sich die Gegenstände jetzt befanden. Es erinnerte uns daran, wie wichtig es ist, psychische Verletzungen im Therapiealltag ebenfalls offen anzuerkennen – ohne Urteil, sondern mit Akzeptanz. Denn bevor Heilung sich vollziehen kann, müssen wir den Zustand des Zerbrochenen akzeptieren.

Üben, Ausbalancieren und Zusammenfügen
Als wir uns daran machten, die Einzelteile mit Leim zu verbinden, merkten wir schnell, dass dies keineswegs einfach ist. Doch genau hier lernten wir eine wichtige Lektion: Die Schwerkraft kann unsere Verbündete sein, wenn wir die Teile geschickt ausbalancieren. Mit der richtigen Positionierung hilft sie uns, die Teile in die gewünschte Form zu bringen. Aber um das Zusammensetzen sicher durchführen zu können, müssen wir die Bewegungen erst üben. Jeder Handgriff muss genau sitzen, denn wir haben nur zwei Hände und müssen darauf achten, nichts zu überlasten.

Diese Erfahrung machte uns bewusst, wie wichtig es ist, im therapeutischen Prozess Probehandeln anzuwenden. Genau wie wir vor dem endgültigen Zusammenfügen jeden Handgriff durchgespielt haben, müssen wir mit den Betroffenen in der Therapie neue Verhaltensweisen und Bewältigungsstrategien immer wieder in geschützten Rahmenbedingungen üben. Hier kommt es darauf an, sich zuerst der Wiedererlangung einer grundlegenden Stabilität zu widmen, bevor wir versuchen, alles auf einmal zu bewältigen. Diese Geduld und das Üben sorgen dafür, dass wir nicht überfordert werden.

Balance finden und Vertrauen aufbauen

Durch Ausprobieren und Balancieren lernten wir, dass die Schwerkraft unsere Teile stabilisiert, wenn wir sie richtig ausrichten. Genau das half uns, die schwierigen Bruchstellen fest miteinander zu verbinden. Dies liess uns an die Momente denken, in denen auch die Betroffenen in unserer Klinik nach und nach wieder Stabilität gewinnen – nicht, weil sie jede Herausforderung auf einmal bewältigen, sondern weil sie sich auf die grundlegenden Elemente der Sicherheit und Stabilität konzentrieren. Hier gilt: Bevor wir uns den grossen Themen zuwenden, stabilisieren wir erst einmal das Gleichgewicht.

Warten und Trocknen – Zeit zur Heilung lassen

Nachdem wir die Teile verbunden hatten, kam der Moment des Wartens. Der Leim benötigte Zeit, um vollständig auszuhärten. Es war eine Phase, in der wir nichts weiter tun konnten, als geduldig abzuwarten und zu beobachten, ob die Verbindung hält. Es erinnerte uns daran, dass auch Heilung Zeit braucht. Wenn wir diesen Prozess beschleunigen wollen, riskieren wir, dass alles wieder auseinanderbricht. Auch in der Therapie braucht es diese Phasen der Ruhe und des Abwartens, in denen sich das, was stabilisiert wurde, festigen und ein neues Gleichgewicht entstehen kann.

Verzieren und Wertschätzung der Brüche

Sobald der Leim getrocknet war, begannen wir, die Risse mit Farbe, besonders in Gold zu verzieren. Dies war ein besonderer Moment: Statt die Brüche zu verstecken, hoben wir sie bewusst hervor. Die Risse waren nun kein Makel mehr, sondern ein Teil der Geschichte des Gegenstandes. Dieses bewusste Hervorheben machte den einst beschädigten Gegenstand zu einem einzigartigen Kunstwerk. Auch in unserer Arbeit mit psychisch Erkrankten haben wir oft die Erfahrung gemacht, dass die Narben, wenn sie nicht versteckt werden müssen, zu einem Teil der Identität werden können. Sie erzählen von erlebten Herausforderungen und von der Stärke, die aus ihrer Überwindung entsteht.

Einzigartige Stabilität und Schönheit

Am Ende hielten wir einen Gegenstand in den Händen, der stabiler war als vorher. Er trug die Zeichen seiner Brüche mit Würde und vermittelte eine ganz besondere Schönheit. Auch wenn er vielleicht nicht perfekt war, war er in seinem neuen Zustand kraftvoll und authentisch. Das ist genau die Metapher, die wir in unserer therapeutischen Arbeit mit den Patienten verfolgen: Es geht nicht darum, die ursprüngliche «Unversehrtheit» wiederherzustellen. Es geht darum, die Brüche als Teil der eigenen Geschichte zu akzeptieren und daraus eine neue, resilientere und stärkere Identität zu schaffen.

Kintsugi zeigte uns, dass Heilung nicht das Ziel hat, alle Wunden unsichtbar zu machen. Stattdessen werden sie zu einem Teil unserer Identität, die uns einzigartig und sogar wertvoller macht. Dieser Prozess erfordert Geduld, Übung und das Vertrauen, dass selbst aus den grössten Brüchen etwas Wunderschönes entstehen kann. So lernten wir, sowohl in der Kunst als auch in der Behandlung und Pflege, dass es nicht das Ziel ist, Perfektion zu erreichen – sondern eine neue, lebendige Ganzheit.

Ein besonderes Erlebnis für die Klinik und ihre Mitarbeitenden

Die beiden Workshops mit Marta Nishimura boten die Möglichkeit, in eine Kunst einzutauchen, die auf tiefer Ebene berührt. Sie waren Momente der Achtsamkeit und Reflexion, Momente, die nur einmal im Leben vorkommen – «Ichi-go ichi-e», das uns Teilnehmende mit neuen Impulsen in unseren beruflichen Alltag begleiten wird. Die Kraft von Kintsugi liegt nicht allein in der Technik, sondern in der Botschaft: Zerbrochenes muss nicht versteckt werden. Es darf – und sollte – in neuem Glanz erstrahlen.

Die Weisheit Japans: Mehr als Kintsugi

Neben Kintsugi gibt es in der japanischen Kultur noch viele andere Konzepte, die einen neuen Blick auf Heilung und Resilienz werfen:

Ichi-go ichi-e (Ein Moment, der nur einmal im Leben vorkommt): Diese japanische Weisheit erinnert uns daran, dass jeder Augenblick kostbar und unwiederbringlich ist. Auch in der Therapie geht es darum, sich ganz auf den gegenwärtigen Moment einzulassen und ihn als einzigartig zu betrachten.

Shinrin Yoku (Achtsames Waldbaden): In Japan ist das bewusste Eintauchen in die Atmosphäre des Waldes eine anerkannte Methode zur Stressreduktion. Die Natur wird als Quelle der Regeneration und inneren Balance gesehen.

Ikigai (Der Sinn des Lebens): Ikigai bedeutet «das, wofür es sich zu leben lohnt». Diese Philosophie lädt Menschen ein, ihren persönlichen Lebenssinn zu finden – eine Überzeugung, die besonders in schwierigen Zeiten von entscheidender Bedeutung ist.

Kaizen (Die Kunst der kleinen Schritte): Kaizen steht für die kontinuierliche Verbesserung durch kleine, aber stetige Veränderungen. In der therapeutischen Arbeit geht es oft darum, winzige Fortschritte anzuerkennen, um langfristig ein stabiles Fundament für Genesung zu schaffen.

Yui Maru (Die Kraft der Zugehörigkeit): Yui Maru betont die Bedeutung von Gemeinschaft und Verbundenheit. Soziale Unterstützung ist eine der wichtigsten Ressourcen für die psychische Gesundheit und wird auch in der Behandlung und Begleitung von Patientinnen und Patienten an der Privatklinik Hohenegg in den Fokus gerückt.

Autor*innen

  • Sabine Claus

    Leiterin Marketing & Kommunikation

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