Wenn Angst das Leben bestimmt: Ausgangslage und Herausforderungen
Angststörungen gehören zu den häufigsten psychischen Erkrankungen weltweit und können das gesamte Leben, die Lebensqualität wie auch das Funktionsniveau von Betroffenen massiv einschränken. Bereits bei Kindern und Jugendlichen mit Angststörungen können sich erhebliche Einschränkungen in verschiedenen Lebensbereichen äussern, u. a. in der Beziehungsgestaltung oder in der Entwicklung sozialer Kompetenz (Plag et al., 1/2025). Diese und andere auch im Erwachsenenalter erlebten Einschränkungen können ohne adäquate Behandlung persistieren und führen nicht selten zu einer sehr langen Leidensgeschichte mit chronifiziertem Verlauf und/oder ausgeprägten Rezidiven (Scott et al., 2022). Es erscheint hilfreich, entsprechende hochqualifizierte Therapiekonzepte und -verfahren einzusetzen. Ob generalisierte Angst, Panikstörungen oder andere Angststörungen – im stationären Setting richtet sich der Fokus aufgrund des meist komorbiden und nicht isolierten Krankheitsbildes auf intensive, multimodale Therapien, die sich insbesondere bei langjährigen, komplexen Verläufen, möglicher Therapieresistenz oder schwerer Komorbidität bewährt haben.
Moderne stationäre Behandlung: Multimodal, evidenzbasiert und individuell
Die moderne stationäre Behandlung vereint evidenzbasierte Psychotherapie, Spezialtherapien, medikamentöse Unterstützung und innovative Technologien – eingebettet in ein ganzheitliches bio-psycho-soziales Modell. Dabei bietet sich die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) nach wie vor als erste Wahl der «Psychotherapie im engeren Sinne» an und dient häufig als Ausgangsbasis der Behandlung.
KVT bildet entsprechend den seit 4/2021 geltenden Leitlinien (S3-Leitlinie Behandlung von Angststörungen, Version 2, https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/051-028) das Rückgrat des psychotherapeutischen Behandlungsprozesses. Dieser bietet den Patientinnen und Patienten unter anderem an, vorhandene dysfunktionale Denkmuster und Vermeidungsstrategien zu identifizieren und durch gezielte adaptive Coping-Mechanismen zu modifizieren bzw. zu ersetzen. In unserem stationären Rahmen werden z. B. spezifische systematische Expositionsverfahren unter kontrollierten Bedingungen angeleitet, begleitet und durchgeführt. Patientinnen und Patienten werden schrittweise an angstauslösende Situationen herangeführt – begleitet von spezifisch dafür ausgebildeten Fachpersonen verschiedener Berufsgruppen (u. a. Bewegungstherapie, Pflegefachpersonen, Fachpsychologinnen und -psychologen für Psychotherapie, Ärztinnen und Ärzte), die Sicherheit vermitteln und auch Rückfallprävention trainieren.
Das behutsame, betont individualisierte Heranführen an und das Durchführen der Konfrontationsverfahren durch verschiedene Berufsgruppen führt zu einem konsistenten und für die Patientinnen und Patienten plausiblen Behandlungsprozess. Dieser beruht auf einer gemeinsamen, verbindenden und im Klinikalltag «gelebten» Haltung und basiert auf wissenschaftlichen Empfehlungen wie auch auf langjährigen transprofessionellen Erkenntnissen. Patientinnen und Patienten fühlen sich sozusagen «rundum» in den Behandlungsprozess eingebettet, was sie als überaus gewinnbringend für ihr Vertrauen in die Behandlung erleben. Plausibilität, fachliche Expertise und eine tragende therapeutische Beziehung bilden einen evaluierten und überaus bewährten ganzheitlichen Zugang zur systematischen Behandlung komplexer Angststörungen (Wampold et al., 2015).
Plausibilität entsteht insbesondere durch die Vermittlung individueller Krankheitsmodelle und in Intensität und «Rhythmus» individualisierter Behandlungsprozesse, die den Patientinnen und Patienten die Vorgehensweise verdeutlichen und nachvollziehbar machen sollen. Beispielsweise werden auch neurobiologische Zusammenhänge (z. B. die Rolle des limbischen Systems bei Angstschleifen) und psychologische Mechanismen (z. B. Teufelskreise der Vermeidung) anschaulich und aktiv mit den Patientinnen und Patienten erarbeitet. Diese Transparenz steigert nicht nur die Motivation, sondern auch die Adherence – ein Effekt, der in Studien mit bis zu 30 % höheren Remissionsraten korreliert (Wampold, 2019).
Verhaltenstherapie, ACT und mehr: Psychotherapeutische Zugänge im Fokus
Der gesamte Behandlungsprozess integriert zudem achtsamkeitsbasierte Ansätze wie die Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT) und die Mindfulness-Based Cognitive Therapy (MBCT). Diese Methoden helfen, die oft überwältigende Angst als vorübergehenden «Zustand» zu akzeptieren, anstatt dagegen anzukämpfen – ein Paradigmenwechsel, der langfristig die verminderte Selbstwirksamkeit stärkt.
Ein zentraler Vorteil der modernen stationären Behandlung von Angststörungen liegt in der engen Zusammenarbeit unseres multiprofessionellen Teams: Psychiaterinnen und Psychiater, Psychologinnen und Psychologen, Pflegefachpersonen, Spezialtherapeutinnen und -therapeuten sowie Somatikexpertinnen und -experten arbeiten Hand in Hand, um sowohl psychische als auch körperliche Symptome (z. B. Tachykardien, Hyperventilation) zu berücksichtigen. Die unterstützende Pharmakotherapie wird dabei gezielt und massvoll eingesetzt: SSRI oder SNRI gelten als First-Line-Medikamente, während Benzodiazepine kurzzeitig und in Krisensituationen zum Einsatz kommen können. Regelmässiges Monitoring und psychoedukative Gespräche über Wirkung und Nebenwirkungen aller Behandlungskomponenten sind fester Bestandteil des Therapieplans.
Digitaler Fortschritt: VR, Biofeedback und KI in der Angsttherapie
Die moderne Behandlung wird heute erfolgreich unterstützt durch evidenzbasierte digitale Techniken wie Virtual Reality Therapy (VRT) oder Augmented Reality (AR) – beispielsweise bei Patientinnen und Patienten mit Angst vor dem Fahren im ÖV oder bei sozialen Phobien. Biofeedback-Systeme befähigen Patientinnen und Patienten, physiologische Angstreaktionen (z. B. erhöhte Herzfrequenz) bewusst zu regulieren. Apps zur Symptomdokumentation oder zum Skillstraining ergänzen die Therapie und fördern die Selbstbefähigung und Selbstwirksamkeit vor, während und nach angstauslösenden Situationen.
Die stationäre Behandlung von Angststörungen hat sich in den letzten Jahren stark weiterentwickelt. Sie kombiniert wissenschaftlich fundierte Methoden mit Empathie und Flexibilität – immer mit dem Ziel, Patientinnen und Patienten zu befähigen, ihr Leben wieder «in den Griff» zu bekommen und eine Lebensqualität zu erreichen, die sie als sinnstiftend und erfüllend betrachten – resilient und selbstbestimmt. Durch die Verbindung von Tradition und Innovation, Individualität und Vernetzung bleibt sie ein unverzichtbarer Baustein im Versorgungssystem.
Weitere evidenzbasierte Technologien in der Angstbehandlung:
- Biofeedback-/Neurofeedback-Systeme:
• Messen physiologische Parameter wie Herzfrequenz, Hautleitfähigkeit oder Hirnaktivität (EEG) in Echtzeit.
• Beispiel: Wearables helfen Patientinnen und Patienten, Körperreaktionen zu regulieren (Schoenberg & David, 2014). - KI-gestützte Chatbots:
• Verschiedene Tools bieten KVT-Übungen und Emotionscoaching via Text.
• Evidenz: Reduktion von Angstsymptomen um 20–30 % in RCTs (Fitzpatrick et al., 2017). - Telemedizin und Online-Therapieplattformen:
• Videotherapie und digitale Gruppenprogramme erhöhen die Zugänglichkeit.
• Metaanalyse: Vergleichbare Wirksamkeit wie Face-to-Face-Therapie (Andrews et al., 2018). - Digitale Expositionstools:
• Augmented Reality (AR): Überlagerung von Angstreizen im realen Umfeld (z. B. ARphobias für Spinnenphobie).
• Smartphone-basierte GPS-Exposition: Apps wie Vivo leiten Agoraphobie-Patientinnen und -patienten durch reale Konfrontationen. - Neurostimulation:
• Transkranielle Gleichstromstimulation (tDCS) oder repetitive TMS (rTMS) modulieren gezielt Angstnetzwerke im Gehirn (Brunoni et al., 2021).
Vorteile:
- Personalisiert: KI passt Interventionen an individuelle Muster an.
- Niedrigschwellig: Tools wie Apps ermöglichen Therapie zwischen Sitzungen.
- Datenbasiert: Langzeitmonitoring via Apps verbessert die Rückfallprävention.
Quellen:
- Fitzpatrick, K. K. et al. (2017). Delivering Cognitive Behavior Therapy to Young Adults With Symptoms of Depression and Anxiety Using a Fully Automated Conversational Agent (Woebot): A Randomized Controlled Trial. JMIR Mental Health.
- Brunoni, A. R. et al. (2021). Noninvasive Brain Stimulation in Anxiety and Trauma-Related Disorders. Neuroscience & Biobehavioral Reviews.
- Loo Gee, B. et al. (2022). Effectiveness of SPARX, a CBT-Based Game for Youth Anxiety. Journal of Medical Internet Research.