Trauma und Verletzlichkeit

Im Rahmen des Hohenegger Symposiums vom 4. September 2025 sprach Prof. em. Dr. med. Ulrich Schnyder über Momente von Kontrollverlust, in denen Verletzlichkeit als menschliche Konstante und Quelle neuer Wege erscheint.

Ulrich Schnyder

Wir alle sind verletzlich: Unsere Patientinnen und Patienten, aber natürlich auch wir selber und die Menschen um uns herum. Verletzlich zu sein, gehört zur «condition humaine», und ich würde es sogar noch weiter fassen: Jedes Lebewesen ist verletzlich, jede Pflanze, jedes Tier, jeder Mensch, ob gross oder klein, ob stark oder schwach, ob mächtig oder ohnmächtig. Wir sind alle mehr oder weniger verletzlich in allen Bereichen unserer Existenz: körperlich, psychisch, wie auch in unseren zwischenmenschlichen Beziehungen.

Wir sind auch meistens verletzlicher als wir denken, und verletzlicher als uns lieb ist. Wir würden das Leben wahrscheinlich gar nicht aushalten, wenn wir uns ständig unserer Vulnerabilität in ihrem ganzen Ausmass bewusst wären. Wir müssen unsere Verletzlichkeit also immer wieder verdrängen, um im Alltag überhaupt funktionieren zu können.

Traumatische Erlebnisse erinnern uns unweigerlich daran, wie verletzlich wir sind.

Trauma und Verletzlichkeit haben viel mit Kontrollverlust zu tun: Etwas Gefährliches, Bedrohliches, Schmerzhaftes geschieht mit mir, und ich kann nichts dagegen tun: Es «widerfährt» mir, ob ich will oder nicht. Ein Extrembeispiel hierfür ist die Erfahrung von Folter. Kontrollverlust wird insbesondere in unserer individualistisch ausgerichteten westlichen Welt als negativ und als Zeichen von Schwäche bewertet.

Menschen, die unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden, erfahren diesen Kontrollverlust immer wieder von Neuem: die intrusiven Erinnerungen (Flashbacks, Albträume) drängen sich ungewollt auf und können nicht kontrolliert werden. Dazu finden sich oft negative Überzeugungen oder Erwartungen in Bezug auf sich selber, andere oder die Welt (z.B. «Ich bin schlecht.», «Man kann niemandem vertrauen.», «Die Welt ist total gefährlich.»). Die Patientinnen und Patienten werden sich also ihrer Verletzlichkeit schmerzhaft bewusst, generalisieren die Erfahrung und gehen mit ihren negativen Erwartungen dann oft zu weit. Solche posttraumatischen Kognitionen wurden bereits 1992 von Ronnie Janoff-Bulman in seinem Buch über die «Shattered Assumptions» beschrieben. 2013 wurden dann die negativen Veränderungen in Kognitionen und Stimmung neu als Symptomcluster ins DSM-5 aufgenommen.

In den evidenzbasierten traumafokussierten Psychotherapien geht es zu einem wesentlichen Teil darum, die Patientinnen und Patienten darin zu unterstützen, die Kontrolle über ihre emotionalen Reaktionen wiederzuerlangen – also weniger Flashbacks zu erleben, weniger schreckhaft und nicht mehr so reizbar zu sein. Symptomreduktion ist natürlich ein wichtiges Ziel in jeder psychotherapeutischen Behandlung.

Allerdings sollte der Fokus auf verbesserte (Selbst-)Kontrolle durch ein ebenso wichtiges Element ergänzt werden: Zu verstehen und zu akzeptieren, dass allen Menschen – d.h. auch uns – jederzeit etwas Schlimmes widerfahren kann, und dass wir das nie vollständig werden kontrollieren können. Lebenskunst würde darin bestehen, gut unterscheiden zu können zwischen Situationen, in denen ich etwas tun kann, in denen es sich lohnt, sich anzustrengen, und Situationen, in denen es nichts zu tun gibt als zu versuchen, das Unabänderliche anzunehmen.

 

Literaturempfehlungen:

  • Schnyder U., Cloitre M. (Eds.). (2022). Evidence based treatments for trauma-related psychological disorders: A practical guide for clinicians, 2nd edition. Springer Nature Switzerland. (DOI: 10.1007/978-3-030-97802-0, ISBN 978-3-030-97801-3, ISBN eBook 978-3-030-97802-0).
  • Landolt MA., Cloitre M., Schnyder U. (Eds.). (2024). Evidence-based treatments for trauma-related disorders in children and adolescents, 2nd edition. Springer International Publishing Switzerland. (DOI: 10.1007/978-3-031-77215-3, ISBN print book 978-3-031-77214-6, ISBN eBook 978-3-031-77215-3).

Autor*innen

  • Prof. em. Dr. med. Ulrich Schnyder

    Facharzt FMH für Psychiatrie u. Psychotherapie, Mitglied des Verwaltungsrats der Privatklinik Hohenegg

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