Die Grundlage der Psychotherapie liegt zunächst einmal in einer besonderen Wahrnehmungsfähigkeit. Nur wer dazu befähigt worden ist, in dem anderen die Verletzlichkeit zu sehen, wird auch tatsächlich helfen können. So ließe sich die Psychotherapie als die Suche nach einer hilfreichen Antwort auf die Verletzlichkeit des Menschen verstehen. Was bedeutet es aber, den Menschen in seiner Grundverletzlichkeit zu sehen? In welchem Verhältnis steht die Verletzlichkeit mit der Selbstwirksamkeit? Ziel der Therapie kann es nur sein, dem anderen dazu zu verhelfen, sich durch die eigene Verletzlichkeit hindurch als selbstwirksamer Mensch zu empfinden. Das geht allerdings nur, wenn man die verletzliche Struktur menschlichen Lebens nicht ausklammert, sondern sie als Modus unserer Existenz annimmt, weil die Verletzlichkeit des Menschen sowohl Bedrohung als auch Ressource sein kann.
Der Vortrag geht von der These aus, dass es notwendig ist, den Menschen von seiner Grundverletzlichkeit her neu zu denken. Dies trifft auf alle Bereiche des menschlichen Lebens zu und insbesondere auf den Bereich der Medizin, steht doch gerade die Medizin in direkter Berührung mit dem, was den Menschen in besonderer Weise verletzlich macht. Die Pandemie- und Kriegserfahrungen dieser Tage haben besonders offenkundig werden lassen, wie einseitig die bisherige Denkweise in der Medizin und auch in der Ethik der Medizin selbst gewesen ist. Gerade in der bioethischen Diskussion der letzten 40 Jahre wurde das souveräne Subjekt, das sich selbst genügt und lediglich befragt werden muss, zum Maßstab der Ethik erhoben. Viel zu wenig hat man das Augenmerk auf die Angewiesenheitsstruktur des Menschen gelenkt.
Folge dieser Einseitigkeit des Denkens war es, dass die Medizin sich immer mehr dem Reparaturparadigma verschrieb und ihre Kernidentität in der rein formal abzurechnenden Leistungserbringung sah. Die Technisierung und Ökonomisierung der Medizin sind nur Ausdruck dieser verengten Sichtweise auf die Medizin und damit Ausdruck eines Menschenbildes, das nicht die Verletzlichkeit des Menschen zum Ausgangspunkt nimmt, sondern den Menschen als selbstgenügsames, souveränes und solipsistisches Wesen betrachtet. Viel zu wenig wurde bedacht, dass die Herausbildung von Souveränität und Autonomie des Menschen sich in einer Grundstruktur der Verletzlichkeit vollzieht. Der Mensch ist nie nur autonom, sondern auch und gerade in seiner Autonomie grundsätzlich verletzlich.
Als Korrektiv zu der beschriebenen Einseitigkeit erscheint es notwendig, die Verletzlichkeit als Grundmerkmal des Menschen in den Mittelpunkt zu stellen und danach zu fragen, wie die Identität von Medizin und Psychotherapie vor diesem Hintergrund neu bestimmt werden kann.
Literaturempfehlungen:
- Butler J. (2005). Gefährdetes Leben. Politische Essays. Suhrkamp, Frankfurt am Main.
- Chrétien J.-L. (2017). Fragilité. Paris: Les éditions du minuit.
- Fuchs T. (2008). Existenzielle Vulnerabilität. Ansätze zu einer Psychopathologie der Grenzsituationen. In: Sonja Rinofner-Kreidl, Harald A. Wiltsche (Hrsg.), Karl Jaspers’ Allgemeine Psychopathologie zwischen Wissenschaft, Philosophie und Praxis. Königshausen & Neumann, Würzburg. S. 95–107.
- Janssen A.. (2018). Verletzbare Subjekte. Grundlagentheoretische Überlegungen zur conditio humana. Budrich UniPress, Opladen.
- Maio G. (2024). Ethik der Verletzlichkeit. Herder, Freiburg.