Seit ihrer Entstehung als wissenschaftliche Disziplin im Gefolge der Aufklärung im 18. Jh. ringt die Psychiatrie mit ihrer Identität. Dies hängt mit ihrem Forschungs-„Gegenstand“ zusammen, der gerade kein „Gegenstand“ ist, sondern die psychisch kranke Person. Der Beitrag erläutert dies anhand ausgewählter Beispiele aus der Psychiatriegeschichte sowie aktueller Debatten. Er zieht drei Schlussfolgerungen:
- Psychiatrie und Psychotherapie sind notwendig mehrdimensional und dem Konzept der personalen Autonomie verpflichtet. Das „bio-psycho-soziale Modell“ darf aber nicht zu einem Lippenbekenntnis werden, sondern muss den unvoreingenommenen wissenschaftlichen Austausch zwischen den als eigenständig respektierten Domänen stimulieren. Dafür eröffnet die psychiatriehistorische Perspektive einen offenen, methodenkritischen Reflexionsraum.
- Die Psychiatrie ist mehr als andere Bereiche des Gesundheitswesens mit den sie umgebenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verknüpft. Dies und die daraus resultierende Verantwortung des Faches gilt es zu erkennen und anzuerkennen.
- Wie die einzelne Fachperson Psychiatrie und Psychotherapie versteht und wie sie sie betreibt, hängt auch davon ab, wer sie selbst ist. Natürlich gibt es nicht den idealen Psychiater oder die ideale Psychiaterin. Um sich aber in diese Richtung zu bewegen, sind einige Eigenschaften hilfreich: neugieriges, unvoreingenommenes Interesse an Menschen, Respekt vor der anderen Person, Fähigkeit zu mehrdimensionalem wissenschaftlichem Denken, Reflexions- und Veränderungsbereitschaft als Bestandteile des gelebten eigenen Wertehorizontes.